Luc Yersin – Zwei Leben im Film

Aus Anlass von Lila Ribis neuem Film (IM)MORTELS, mein Nachruf auf Luc, unseren wunderbaren Tonmeister auf «Nachbeben». Andere Tonmenschen hätten die Hände über unsere Arbeitsweise verworfen. Nicht so Luc. Er blieb stoisch und machte einen grossartigen Ton. Seine Technik gab uns die Freiheit, anders zu arbeiten. Ich bin ihm heute noch dankbar.

Am 30. Mai 2008 ist Luc Yersin gestorben.
Ein Nachruf von Stina Werenfels im Cinébulletin, 2008

«Du warst nicht vorgesehen, hört man irgendwo in diesem Film. Jetzt will die Regisseurin die Version ihres Vaters hören: Luc sitzt vor der Kamera und raucht. Er sucht und findet keine Antwort auf die Frage seiner Tochter. Coupe! sagt er.

«Spaghetti alle Vongole» heisst der Film von Lila Ribi, Luc Yersins jüngerer Tochter, die damit ihre Abschlussarbeit am DAVI vorgelegt hat. Jener Institution, welche ihr Onkel Yves gegründet und an welcher ihr Vater Tontechnik unterrichtet hat.


Still aus dem Film «(IM)MORTELS» von Lila Ribi, 2021 > Credits: www.maximage.ch

Der kurze Film wird uraufgeführt an der Cinémathèque in Lausanne. Die Umstände sind ungewöhnlich: Eben wurde Lucs Sarg, überhäuft von Margheriten, aus dem Saal getragen. Gerade war Lucs Bild nochmals in Worten vor uns auferstanden: Ein Kameramann, ein Regisseur, die Gefährtin haben von ihm gesprochen. Eben noch haben wir Ton-Aufnahmen von Luc gehört. Allen voran jene aus ‚Il Bacio di Tosca’ . Und jeder hat es gespürt: Hier hat jemand Perfektion erreicht.

Jetzt steht nur noch Luc’s Wägeli da. Jenes Wägeli, welches ihn in alle Filmschlachten hinein begleitet hat. Darauf sein Soundrecorder, die Sonnenbrille, die Marlboros und die notorische Dächlikappe. Vielleicht ist dieser Anblick das Ergreifendste für uns, die mit Luc gearbeitet haben; und für alle, die wissen, was für eine wundervolle Symbiose hier ein Mensch mit Technik eingegangen ist. Jetzt sehen wir den verlassenen Wagen. Nichts mehr als eine Kabelsammlung mit Siliciumhalbleitern.

Wieviele Sätze jenseits der Takes müssen im Laufe eines Lebens ins Ohr eines Tonmeisters gedrungen sein. Wieviele Geheimnisse, Lästereinen, Intrigen, Set-Romanzen muss er gehört haben? Die Kopfhörer auf, ist es ein ständiges Umspültwerden. Es ist die Position auf dem Set mit der grössten Intimität und zugleich der grössten Distanz.

Luc liebte die Anrufe, die ihn zum nächsten Film abriefen. So kam er auf meinen Film; er hatte den letzten am Vortag abgedreht. Ich legte ihm meinen Arbeitsstil dar. Er zuckte nicht mit der Wimper, obwohl ich ihm grad die Hölle für jeden Tonmeister beschrieben hatte: SchauspielerInnen sprachen zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort, wenn es sein musste, gleichzeitig. Dazu drehten wir in einer mittelländischen Anflugsschneise mit mittelständischen Vorgärten. Rasenmäher überall.

Einmal, während dem Dreh hörte ich, wie er über das Alter sprach: Er würde sein Auto mit allem Notwendigen voll packen und reisen.

Tu m’as horriblement manqué, sagt Lila Ribi in ihrem Film. Selten trifft ein nüchtern gesagter Satz schmerzhafter. Darin liegt: Wo warst Du, als ich die ersten Schritte gemacht hab, als ich meine Zahnspange kriegte, als ich nie mehr essen wollte? Aber die Regisseurin verbittet sich solche Weinerlichkeiten. Sie ist sparsam in den Mitteln und schiebt ihrem Vater einen Karton über den Tisch. Er öffnet ihn, entnimmt ihm eine Handvoll Postkarten, zieht an der Zigarette, liest und denkt nach: Je ne savais pas que je t’ai écrit ces cartes, sagt er. Es scheint, auch die Orte hätten keine Erinnerung in ihm hinterlassen. Dann macht Lila einen Vorschlag: Lass uns zusammen eine Reise machen. Doch der Vater muss sich behandeln lassen. Er ist sehr krank. Er sagt ab. Dafür bekocht er seine Tochter. Sie filmt, wie er eine Fertigsauce in die Pfanne drückt, mit unvergleichlichem Humor.

Die Tochter schafft es: zu zweit fahren sie nun doch nach Italien. Am ligurischen Strand sitzen sie und schweigen. Aber Lila ist vorbereitet: J’ai imaginé un acte symbolique. Zwei Glasfläschchen, zwei Zettel. Jeder soll darauf seinen grössten Wunsch schreiben. Dann will sie die zwei Fläschen mit den zwei Wünschen dem Meer übergeben. Ihr Vater sieht keinen Sinn darin: J’ai l’impression que c’est faux. Ecoute, sagt Lila, pour moi c’est pas faux. Lila fängt an: Sie will ihren Vater lieben, wie er ist. Aufhören, ihn zu suchen. Jetzt ist er dran. Endlose Minuten vergehen. Es will dem Vater nichts einfallen. Hartnäckig, unnachgiebig, streng bleibt Lila: Ich möchte aber, dass Du das jetzt machst. Wieder so langes Schweigen. Lila ist wütend: Dann mach ich es halt für Dich. Sie schreibt und liest vor: Das ist ziemlich genau das Gegenteil, von dem, was ich schreiben würde, sagt Luc, pour me liberer de mes poids, une des solutions possibles c’est de mourir. Schweigen. Dann tun sie es, beide. Sie werfen die Fläschchen ins Meer. Und Luc nimmt Lila in den Arm. Nicht lange. Im Gegenlicht.

Die Trauergemeinde löst sich auf. Vermutlich hatten noch andere ein unbedarftes Portrait von Luc befürchtet. Herausgekommen ist eine wunderschöne Analyse über eine verunglückte Vater-Tochter Geschichte. Jeder weiss, wie schwer solche persönliche Doks sind. Wie sie jederzeit abrutschen können ins Narzisstische, ins Sentimentale. Lila war topfnüchtern, unnachgiebig… brutal? Wie sie den todkranken, widerstrebenden Vater vor die Kamera gezerrt hat? Aber dieser jemand war Luc: jemand der alles über Film und dessen Mittel wusste. Jemand der Film über alles liebte. Ein einziges Mal ist er vor die Kamera getreten: Für seine Tochter.

Ich wünsche dem Film, Lila und ihrer Kunst ein langes Leben».